Otto-Hintze-Nachwuchspreis 2023
Zum sechsten Mal (seit 2013) wurde der Otto-Hintze-Nachwuchspreis verliehen, der wieder mit 3000 € dotiert war.
Die Preisträgerin Laetitia Lenel (Hintze-Preis 2023)
Laetitia Lenel studierte Geschichte und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Genf und der Karls-Universität Prag. Promotion am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität (2021, summa cum laude); 2017/18 Gastaufenthalt am Department of History, Princeton University. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität und Koordinatorin des DFG-Schwerpunktprogramms "Erfahrung und Erwartung. Historische Grundlagen ökonomischen Handelns". Stipendien der Studienstiftung des deutschen Volkes, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Stiftung Bildung und Wissenschaft. Sprecherin des Arbeitskreis Geschichte+Theorie (zusammen mit Tobias Becker). Ausgezeichnet mit dem Essaypreis WerkstattGeschichte (2018), dem Humboldt-Preis (2021), dem Johann-Gustav-Droysen-Preis (2022) und dem Friedrich-Lütge-Preis (2023).
Die nachstehende Laudatio auf Laetitia Lenel und ihre Promotionsschrift "The Hopeful Science. A Transatlantic History of Business Forecasting, 1920-1960", Diss. phil. HU von 2021, hielt Vorstandsmitglied Heinz-Elmar Tenorth am 14.07.23 bei der Absolvent:innenverabschiedung 2023 des IFG im Hörsaal 10 auf dem Campus Nord:
"Ich habe heute die Ehre und das Vergnügen, die Laudatio für die preisgekrönte Arbeit und damit auch auf die diesjährige Preisträgerin des Otto-Hintze-Preises der Michael- und Claudia-Borgolte-Stiftung zu halten. Die Arbeit galt dem Thema „The Hopeful Science. A Transatlantic History of Business Forecasting, 1920–1960“; vorgelegt wurde sie von Laetitia Dorothea Melanie Lenel, die in Frankfurt am Main geboren wurde und nach Studien in Berlin, an der Princeton University, in Genf, Prag und Freiburg sowie nach einem Bachelor in Freiburg und einem Master in Berlin mit dieser Arbeit 2021 an der HU promoviert wurde.
Dabei muss ich auch gleich sagen, dass mich die Freude der Laudatio auch mit einer großen Herausforderung konfrontiert – denn ich bin nicht der erste, der diese Arbeit lobt. Die beiden Betreuer haben das ausführlich getan, Alexander Nützenadel, der Wirtschaftshistoriker unserer Universität, und Jeremy Adelman, im gleichem Forschungsbereich in Princeton tätig – und beide haben summa cum laude gegeben (natürlich hier und da auch Kritik geäußert, Gutachter müssen ja auch bei exzellenten Arbeiten ihre Würde wahren). Wir wissen alle, dass es bei dieser Gutachtenlage eines dritten Gutachtens bedarf, um die Valididät der beiden Erstgutachten zu prüfen – und Anke Te Heesen hat in der Wahrnehmung dieser Aufgabe nur die erfreulichsten Ergebnisse für die Wissenschaftsgeschichte gefunden die positiven Voten bestätigt. Unser Vorstandsmitglied Gabriele Metzler war schließlich als Dekanin der Philosophischen Fakultät am Verfahren beteiligt. Mit so viel summa im Rücken hat Frau Lenel auch schon weiteren Ruhm eingeheimst, z. B. den Johann Gustav Droysen- und den Humboldt- Preis für Dissertationen der Universität. Warum dann jetzt noch der Hintze-Preis, könnte man ja sagen, wo doch schon die erwähnten und andere Preise vergeben sind und mehr als reichlich Lob ausgeschüttet wurde? Fehlte dem Vorstand der Stiftung die Phantasie oder der Mut, eine der anderen eingereichten Arbeiten zu prämiieren, die ja auch alle höchst positiv bewertet worden waren – es gibt zwar nicht oft im Promotionsjahr, aber doch mehr als einmal summa cum laude an unserer Universität, wie wir aus den Bewerbungen für den Hintze-Preis wissen.
Was hat uns im Vorstand – zwei Mediävisten, eine westeuropäische Neuzeithistorikerin und ein älterer Herr aus der Historischen Bildungsforschung, fachfremd der disziplinären Herkunft nach –, zu der Auszeichnung von Frau Lenel bewogen? So elitär oder vielleicht sogar arrogant sich das anhört – summa cum laude und damit die Gutachten der Gutachter allein reichen uns nicht aus, diesmal nicht und früher nicht. Diese Gutachten sind für uns trivial, also – wie man in der Logik argumentiert – notwendig, aber nicht hinreichend. Insofern haben wir natürlich – wie die Gutachter – mit großer Anerkennung gesehen, welche große Zahl an staatliche und anderen Archiven weltweit, in Deutschland oder in den USA, in England, den Niederlanden, der Schweiz oder Südafrika, Frau Lenel genutzt und welche Menge an gedruckten und ungedruckten Quellen sie ausgewertet hat; wir waren natürlich auch beeindruckt von der klaren Komposition ihrer Arbeit, die in der jeweiligen Kapitelüberschrift schon andeutet, in welchen Schritten und mit welchen Operationen der Analyse und Darstellung die ökonomische Prognose international, in Kooperation und Konkurrenz erfunden und institutionalisiert wurde, bis hin zu dem Punkt, dass sie seit den 1960er Jahren und bis heute aus dem ökonomisch-politisch-wissenschaftlichen Komplex nicht mehr wegzudenken sind; wir alle haben uns im Alltag daran gewöhnt, die Indices und Messgrößen, Schaubilder und Tabellen zu verstehen und auf unsere Wahrnehmung von Welt und Zukunft zu beziehen, die in solchen Arbeiten produziert werden. Mehr als trivial fanden wir dann vor allem, dass uns Frau Lenel gezeigt hat, dass diese ganzen, aus den Krisen seit 1912 geborenen Anstrengungen im Grunde von Beginn an und bis heute an einer eigentümlichen Paradoxie leiden; mit großen Erwartungen belastet, lösen sie im Grunde dieser Erwartungen doch nie ein, weil ihre Prognosen notorisch falsifiziert werden.
Das verlangt natürlich nach Erklärungen, Theoriebedarf entsteht, den ja auch der Historiker oder die Historikerin bedienen muss, wenn er oder sie interessante und komplexe Geschichten erzählt. Als „praxeologisch“ beschreibt sie ihre Analyseperspektive, sie will also die Erzeugung von Strukturen im Prozess selbst beobachten, die Produkte als Teil dieser Praktiken, z. B die Mathematisierung der Befunde und die Vorliebe für Grafiken (die sie selbst auch nutzt). Hilfreiche sind dann offenbar auch Einsichten der sozialwissenschaftlichen Nachbarn, nicht nur der Ökonomen, sondern auch der Sozialwissenschaften. Und wer immer sich mit Prognosen beschäftigt hat, ergötzt sich an dem eigentümlichen Befund der self-fulfilling und der self-destroying prophecies – und natürlich nutzt Frau Lenel dieses Argument von Robert Merton auch. Sie kennt sogar noch, das ist im akademischen Betrieb eher selten geworden, die Krisentheorien eines älteren Nationalökonomen, ehemals Student an unserer Universität, Karl Marx mit Namen, und kann seine Krisentheorien und die Geburt der Konjunkturprognose systematisch verbinden und in Analysen des new capitalism plausibel verorten.
Vor allem aber für den Befund, dass ihre Arbeit zwar keine „history of progress“ vorstellt, Konjunkturprognosen aber dennoch, trotz all ihrer Misserfolge, bis heute in exzellent ausgestatteten Instituten praktiziert und hoch bezahlt werden – für die dabei entstehende Frage, warum dieser Aufwand für das immer neue Scheitern, versucht sie ein Antwort. Der Titel deutet sie an – „Hopeful science“ –. Die Interpretation der Prognose als „kulturelle Technik der Synchronisation“ vertieft das; funktional wird argumentiert, so dass man sich nicht wundert, dass auch Niklas Luhmann vorkommt, bei dem man Vertrauen als Mechanismus der Reduktion von Komplexität – wie Prognosen auch – kennenlernen kann; Frau Lenel nennt Prognosen eine plausible „technology of trust“, basierend auf dem „Prinzip Hoffnung“, für das – wer sonst? – Ernst Bloch bemüht wird, gepaart mit allen Strategien, trotz Enttäuschungen mit widerstreitenden Erfahrungen und offenen Zukünften umzugehen – sogar Hans Vaihinger, ein alter neukantianischer, heute ganz vergessener Zausel der Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts kommt mit seinen „nützlichen Fiktionen“ vor (und auch das freut den Bildungshistoriker, dessen ganze Disziplin vom Als-ob lebt, als ob sie könnte, was sie verspricht).
Das alles, die notwendigen historiographischen Praktiken und die gar nicht alltäglichen theoretischen Referenzen, die subtile Fähigkeit, reflektierend die Phänomene konstanten Misserfolgs und gleichzeitig höchster Anerkennung zu verbinden, das alles hat uns fasziniert – wie der Umgang mit Paradoxa ja immer fasziniert, vor allem dann, wenn sich ihre Nutzer nicht auf den ja auch bekannten Irrweg locken lassen, Paradoxa für nicht auflösbare Widersprüche zu halten. Kurz gefasst: Das intellektuelle Vergnügen wird prämiiert, den akademischen Ernst nehmen wir dabei dankbar mit in Kauf. Denn eine Dissertation zu finden, die selbst als Strategie der Entparadoxierung gelesen werden kann, weil sie paradoxe Strategien in ihrem lebensweltlich-politischen Wert erklärt – das verdient die Ehre, die wir dieser Dissertation heute erweisen!
… und Michael Borgolte übergibt nun den Preis, weil wir ja auch wissen, dass Geld selbst ein Mechanismus der Reduktion von Komplexität darstellt, hier des irritierenden Alltags in Zeiten von Krisen und Inflation."
Laetitia Lenel und Michael Borgolte nach der Preisverleihung am 14.07.23