Der „Preis der Humboldt-Universität für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Mittelalterlichen Geschichte, gestiftet von Michael und Claudia Borgolte“, der mit 10.000 € dotiert ist, wurde 2024 zum vierten Mal verliehen. Bei der Ausschreibung, die zu einer Reihe herausragender Bewerbungen führte, setzte sich nach dem Urteil einer internationalen Expertenkommission Jun. Prof. für Spätes Mittelalter und der Frühen Neuzeit Dr. Ulla Kypta, Universität Hamburg, durch.

Bei der Preisverleihung am 15.7.2024 würdigte Michael Borgolte Frau Kypta mit folgender Laudatio:
„Meine Frau und ich haben die große Freude, heute zum vierten Mal den Preis der Humboldt-Universität für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Mittelalterlichen Geschichte zu vergeben.
Wir bedanken uns herzlich bei Barbara Schlieben, die dafür eine Sitzung des Kolloquiums für Geschichte des Mittelalters zur Verfügung gestellt hat, und bei Barbaras Mitarbeiter*innen, dass sie für die gebotene Rahmung der kleinen Feier gesorgt haben.
Unser Dank richtet sich auch an Professor Thomas Ertl von der FU Berlin, der die Preisträgerin vorgeschlagen hat.
Unsere international zusammengesetzte Jury, deren gewissenhafte und kompetente Arbeit nicht hoch genug zu loben ist, hat in diesem Jahr unter mehreren ausgezeichneten Kandidatinnen und Kandidaten Frau Professorin Ulla Kypta von der Universität Hamburg gewählt. Wir freuen uns sehr, liebe Frau Kypta, dass Sie heute nach Berlin gekommen sind, um die Urkunde entgegenzunehmen und mit einem Vortrag Einsichten in Ihre neuen Forschungen geben wollen.
Lassen Sie mich aber zuerst etwas über Ihre wissenschaftliche Karriere und vor allem über Ihre Habilitationsschrift sagen.
Ulla Kypta hat zunächst in Erlangen Mittelalterliche Geschichte, Politische Wissenschaften und Volkswirtschaftslehre studiert. Diese durchaus nicht gewöhnliche Fächerkombination deutet schon an, dass sie von vorn herein kreative Wege in die Wissenschaft gesucht hat. Dass sie damit auch erfolgreich war, zeigte schon ihre 2012 in Frankfurt am Main eingereichte Dissertation über das Thema „Die Autonomie der Routine. Wie im 12. Jahrhundert das englische Schatzamt entstand“. Die Abhandlung wurde mit dem Dissertationspreis des Stiftungsfonds Kopper der Universität Frankfurt ausgezeichnet.
Von 2012 bis 2015 war Frau Kypta dort Assistentin von Professor Jan Rüdiger, dem sie 2015 dann auch nach Basel folgte. Heute ließ sich der akademische Lehrer von seiner Schülerin nach Berlin locken. Ich freue mich, deshalb unter uns auch Jan Rüdiger zu begrüßen.
2019 wurde Ulla Kypta auf eine Juniorprofessur für Mittelalterliche Geschichte der Universität Hamburg berufen. Im Frühjahr 2022 folgte, allerdings wiederum in Basel, ihre Habilitation, während kurz darauf in Hamburg ihre Zwischenevaluation positiv ausfiel. Frau Kypta hat also gute Chancen auf eine Professur auf Lebenszeit, und wir wie die gesamte Jury hoffen, dass ihr dafür der Berliner Preis ein weiteres Argument geben möge. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass von den bisher drei Preisträgern immerhin zwei inzwischen einen Lehrstuhl bekleiden.
Ich möchte nicht ausführlicher auf die anderen Publikationen und auch nicht darauf eingehen, dass Ulla Kypta einen Arbeitskreis für spätmittelalterliche Wirtschaftsgeschichte gegründet hat, sondern unter ihren interessanten Lehrveranstaltungen eine besonders originelle hervorheben. Mit einem ihrer Hauptsemimare entwickelte sie nämlich Spiele, die mit der Welt der Kaufleute und besonders der Textilien vertraut machen sollten. Die Spiele wurden mit dem Open-Source-Tool Twine programmiert. Man kann sich am PC an diesen insgesamt zehn Spielen leicht beteiligen und dabei u. a. in einem höfischen Roman mitspielen oder ermitteln, welches Dilemma eine junge Frau zu bewältigen hatte, die die ewige weibliche Frage, was anzuziehen sei, für einen Ostersonntag zu beantworten hatte, usw.
Nun aber zu der von uns ausgezeichneten Monographie, Ulla Kyptas Habilitationsschrift mit dem Titel „Kooperative Individualisten. Gesellschafter, Diener und Bevollmächtigte deutscher Kaufleute im Antwerpen des späten 15. und 16. Jahrhunderts“.
Schauplatz des durch Kypta analysierten und dargestellten Geschehens ist die Stadt Antwerpen an der Wende zum 16. Jahrhundert. Die flämische Hafenstadt war durch die Entscheidung der Portugiesen, hier ihren Pfeffer von Übersee nach Europa einzuführen, für längere Zeit an die Spitze des europäischen Fernhandels gerückt.
Kypta beobachtet in diesem raumzeitlichen Rahmen die Tätigkeit deutscher Kaufleute, und zwar einerseits die Händler aus Süddeutschland und andererseits die ‚Ostlinge‘ der Hanse. Dabei ging es ihr aber nicht darum, subjektive Berichte der Beteiligten auszuwerten, also einem narrativen Duktus zu folgen. Vielmehr konzentrierte sie sich auf die registrierten Vertreter der deutschen Kaufleute anhand von Verwaltungsschriftgut und Gerichtsakten, sie versuchte also die städtische Perspekive einzunehmen.
Die wissenschaftliche Problemlage ergab sich daraus, dass bisher ein Gegensatz aufgemacht wurde zwischen der hierarchisch aufgebauten, an moderne Firmen erinnernden Organisation der Handelsgesellschaften und der genossenschaftlich organisierten Hanse. Die Autorin wollte stattdessen zeigen, dass hier wie dort drei Typen von Vertretung bei der Handelstätigkeit belegt sind. Im einzelnen sind das die Vertretung durch Gesellschafter, zweitens die Vertretung durch Diener und drittens die Vertretung durch Bevollmächtigte. Kypta fragt nicht nur vergleichend nach der Funktion und Leistung der jeweiligen Vertretungen, sondern sie interessiert sich auch und fast noch mehr für die mit diesen verbundenen Ziele und Erwartungen der Kaufleute gegenüber ihren Beauftragten. Indem sie diese Fragen aufwarf und im Zusammenhang beantwortete, stieß sie auf Grundfragen von Fernhandelstätigkeit überhaupt vor.
Eine methodisch entscheidende Frage war die Sichtung des Materials. Kypta wählte etwas mehr als 200 Geschäftsbeziehungen aus einer unübersehbaren Fülle überlieferter Fälle aus. Mit großer Umsicht begründete sie ihre Entscheidung auf mittlerer Ebene zwischen willkürlich gegriffenen Fällen, denen exemplarische Bedeutung nur zugeschrieben werden kann, und der unerreichbaren Durchdringung aller überlieferter Fälle. Schon im Zusammenhang dieser Auswahl beweist die Autorin neben der Methodensicherheit ihre Fähigkeit zur gedanklich klaren Argumentation in entsprechend luzider Sprache.
Was lässt sich nach Kyptas Analysen über die Typen der Vertretung sagen?
Bei Gesellschaftern, um mit ihnen zu beginnen, handelte es sich im Allgemeinen um zwei Personen, die Verträge zum gegenseitigen Vorteil oder zu gemeinsamen Lasten schlossen und sich dabei vertreten konnten. Handelsgesellschaften bestanden aus einer Mehrzahl solcher Beziehungen. Grundlage der Absprachen waren die im Prinzip gleichwertigen Investitionen der Partner in das gleiche Geschäft, woraus ebenso gleiche Anteile an Gewinn und Verlust resultierten. Die Gesellschafter gingen bei ihrem Handeln aber nicht in diesem Zusammenwirken mit ihrem Partner auf, sondern konnten daneben mit einem anderen Teil ihres Vermögens eigene Geschäfte tätigen. Ein Konkurrenzverbot bestand nicht. Wie Kypta zeigt, war dieser Typ des Gesellschafters nicht nur, wie zu erwarten gewesen wäre, bei den süddeutschen Händlern vertreten, sondern ebenso bei den Hansekaufleuten.
Die „Diener“ waren im Unterschied zu den Gesellschaftern dem Willen eines Herren unterworfen. Sie mussten diesen nach seinem Wunsch vertreten, und zwar auch an beliebigen Orten. Ihnen war nicht erlaubt, gleichzeitig einem anderen Herren zu dienen, wohl aber durften sie wie die Gesellschafter eigene Geschäfte abwickeln. Typischerweise gingen sie aus den gleichen Familien wie ihre Herren hervor. Oft handelte es sich um die Söhne befreundeter Familien, die bei dem jeweiligen Herrn während einer zeitlich begrenzten Dauer in die Lehre gingen.
„Bevollmächtigte“ waren hingegen den Herren oft persönlich nicht bekannt, aber ortskundig, zum Beispiel eben in Antwerpen; sie erhielten einen spezifischen und begrenzten Auftrag. Gerade sie erweiterten den Bezugskreis der Händler in unbekannte Zusammenhänge.
Wie schon der Haupttitel „kooperative Individualisten“ zeigt, ging es Kypa um die Wechselwirkung von Zusammenarbeit und Eigeninitiative. Bei allen Vertretungen suchten die beteiligten Einzelnen, durch Kooperation ihr Eigeninteresse zu befriedigen. Das konnte aber nur funktionieren, weil alle Beteiligten wussten, dass die Zusammenarbeit zum Vorteil jedes Einzelnen war.
Von dieser Einsicht aus stellte sich die Frage, wie die Kaufmannschaft sozialgeschichtlich gesehen erfasst werden soll. Kypta spricht von einer Gruppe mit gemeinsamen Werten und lässt mit diesem Verständnis das stark korporativ formulierten Gruppenverständnis von Oexle hinter sich.
Die zentrale und meines Erachtens bemerkenswerteste Einsicht der Autorin besteht nun darin, dass höheres Gewinnstreben nicht das entscheidende Motiv der Kaufleute für die Kooperation mit anderen gewesen sei. Vielmehr sei es den Händlern darum gegangen, mit den unterschiedlichen Arten von Vertretungen ihren Handel stetig auszubauen. Den Händlern sei es also um den Handel selbst gegangen, so etwa, wie ich hinzufügen möchte, wie Wissenschaftler*innen Wissenschaft um ihrer selbst betreiben.
Ich habe schon manches angedeutet, was diese Abhandlung aus Sicht unserer Jury preiswürdig macht, und führe dies mit einigen weiteren Bemerkungen näher aus: Grundlage war die Sichtung eines großen Quellenbestandes aus Archivalien verschiedener internationaler Provenienz und die darauf beruhende Bildung eines Samples für die eigene Untersuchung. Ferner hebe ich hervor eine methodisch akribisch, fast schon schmerzhaft genau begründete Untersuchungsstrategie. Die souveräne Präsentation des eigene Fazits schon am Beginn, ohne dass der weite Spannungsbogen der Analyse Schaden litte. Die wiederum sorgfältige, aber nie redundante Präsentation der Zwischenergebnisse mit weiter klärenden Neuformulierungen. Der ständige kritische Dialog mit der Forschungsliteratur internationaler Provenienz. Die für Arbeiten dieses Lebensalters ungewöhnlich souveräne Unterscheidung zwischen vermeintlich zwingenden logischen Schlüssen und Plausibitätsannahmen. Die wissenschaftsethisch bemerkenswerten Hinweise, mit eigenen Einsichten schon vorhandene Einsichten anderer nur nuanciert zu erweitern. Die sprachliche Meisterschaft, einen spröden Stoff und einen komplexen Beweisgang auch Uneingeweihten nahezubringen. Und schließlich die Arbeit an einem wissenschaftlichen Problem, das über das Mittelalter hinaus von Bedeutung ist. Denn, wie Kypta argumentiert, auch die moderne Firma ist nur vermeintlich eine hierarchische, stringent aufgebaute Organisation, sondern sie besteht in ähnlicher Weise wie die Handelstätigkeit des Spätmittelalters aus einem Gefüge von Sozialbeziehungen unterschiedlicher Formen und Ziele.
Wir waren davon überzeugt, dass die Abhandlung von Ulla Kypta besonders deshalb den Vorzug vor anderen, nicht weniger ausgezeichneten Arbeiten verdient hat, weil sie forschungsstrategisch über sich hinausweist. Sie belegt ein neues, aber noch nicht sehr verbreitetes Interesse an mittelalterlicher Wirtschaftsgeschichte aus dem Verständnis für allgemeine Handelsgeschichte. Sie belegt in erfreulich unangestrengter Weise, dass auch unsere Nachbardisziplinen von Mittelalterforschung Nutzen haben können.
Ulla Kyptas diesbezügliche Forschungsgeschichte hat weder mit ihrer Habilschrift noch mit ihrer Dissertation begonnen, sondern war schon in ihrer Erlanger Magisterarbeit über die Wettinische Finanzverwaltung im Spätmittelalter markiert. Wir setzen darauf, dass dieses Interesse anhält und Frau Kypta sich auf ihrem Forschungsfeld immer wieder neue Themen erschließt und andere, vor allem jüngere Historiker*innen dazu begeistert. In diesem Sinne verstehen wir den Preis als Belohnung und Ermunterung zugleich.