Die Jury zur Vergabe des Otto-Hintze-Nachwuchspreises hat am 07.04.21 getagt und aus einer erfreulichen Reihe guter bis sehr guter Dissertationen und Habilitationsschriften ihre Auswahl getroffen. Zum ersten Mal wurde der Preis zweimal vergeben, da es sich um zwei gleichwertige, überragende Abhandlungen handelt:

Moritz Hinsch, Ökonomik und Hauswirtschaft im klassischen Griechenland, im Druck 2021 (Dissertation),

sowie

Janis Nalbadidacis, In den Verliesen der Diktatur. Folterzentren während der Militärdiktaturen in Griechenland (1967-1974) und Argentinien (1976-1983) (Dissertation von 2019).

In Vorcoronazeiten war es üblich, die Urkunden mit dem Preisgeld bei der Absolventenfeier Ende des Sommersemesters zu übergeben. Die beiden Preisträger (mit je ungeteiltem Preisgeld) wurden am 27.05.2021 in einer kleinen corona-konformen (d.h. leider ohne Öffentlichkeit) Veranstaltung ausgezeichnet.

Das Jury-Mitglied Michael Borgolte hielt folgende Laudatio auf Werk und Person von Moritz Hinsch:

Für den Otto-Hintze-Nachwuchspreis 2021 wurde Moritz Hinsch für seine Dissertation „Ökonomik und Hauswirtschaft im klassischen Griechenland“ ausgezeichnet. Der Autor hat sich darin eine Aufgabe gestellt, die von ihrer grundsätzlichen, ja universalhistorischen Bedeutung her betrachtet, kaum größer sein könnte. Es geht ihm um die Reinterpretation der These des Nationalökonomen Karl Bücher von 1893, wonach die Antike die Epoche der Hauswirtschaft gewesen sei. Tatsächlich bildete ‚das Haus‘ die wichtigste Grundeinheit der griechischen Gesellschaft in klassischer Zeit. Unter ‚Haus‘ wird dabei die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft der Eheleute, ihrer Kinder und des abhängigen Gesindes als primärer Ort der Sozialisation und der Bestimmung sozialer Identität verstanden. Von K. Bücher und der ihm folgenden nationalökonomischen und altertumswissenschaftlichen Literatur unterscheidet sich Hinsch mit der (auch sonst vertretenen) These, dass er keine universale Stufenfolge annimmt, nach der auf die antike Hauswirtschaft die Stadtwirtschaft und schließlich die Volkswirtschaft gefolgt sei. Schon Hinschs althistorische Kollegen hatten danach gefragt, wie die Antike die Epoche der Hauswirtschaft sein konnte, wenn es doch in dieser Zeit so viele Belege für Handel, Geldverkehr und gewerbliche Produktion gab? Hinsch geht aber darüber hinaus und formuliert gleich am Beginn seines 650 Seiten umfassenden Buches seine Leitthese, „dass der Haushalt in klassischer Zeit deshalb die zentrale Organisationsform der Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern und Leistungen blieb, weil sich seine institutionelle Ordnung so flexibel an die Erfordernisse der expandierenden geldbasierten Verkehrswirtschaft anpassen ließ, dass keine ausreichenden Anreize bestanden, grundsätzlich neue Institutionen oder Techniken zu entwickeln.“ (S. 17) Um diese Behauptung zu begründen, befasst sich der Autor weniger mit der Ökonomik als antiker Theorie – derartige Schriften hatten Xenophon, Aristoteles und Pseudo-Aristoteles hervorgebracht –, als mit dem Haushalt selbst. In diachroner Perspektive stößt Hinsch bei seinen Forschungen bis zu den Anfängen der Hauswirtschaft zurück (Homer, Hesiod), er stellt aber die Zeit des klassischen Griechenland von etwa 450 bis 300 v. u. Z. in den Mittelpunkt.
Geleitet von seiner klar formulierten und überzeugend begründeten Fragestellung führt Hinsch seine Untersuchung luzide, konsequent, hochreflektiert und mit gedanklicher Stringenz durch. Überall ist er der Rolle der Geldwirtschaft im System der Hauswirtschaft auf der Spur. Der Anlage, Durchführung und auch Thesenbildung nach hat sein Buch zweifellos den Charakter eines Standardwerkes. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem Genus ‚Handbuch‘, denn hier ist nichts bis zum enzyklopädischen Verdruss ausgewalzt. Der Autor geht auf alle Phänomene mit frischem Blick ein, niemals unkritisch gegenüber ihm vorliegenden Forschungsergebnissen, aber auch nie besserwisserisch. Es will etwas heißen, wenn man von einem Werk über einen vermeintlich spröden Stoff und von beträchtlicher Länge sagen kann, dass es ein reines Lesevergnügen ist.

Moritz Hinsch, Jg. 1986, ist zur Zeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin.

Das Jury-Mitglied Gabriele Metzler hielt folgende Laudatio auf Werk und Person von Janis Nalbadidacis:

Für den Otto-Hintze-Nachwuchspreis 2021 wurde Janis Nalbadidacis für seine Dissertation „In den Verliesen der Diktatur. Folterzentren während der Militärdiktaturen in Griechenland (1967-1974) und Argentinien (1976-1983)“ ausgezeichnet. In seiner Arbeit hat er sich eines denkbar sperrigen und belastenden Themas angenommen. Er führt seine Leser in die „Verliese der Diktatur“, in die Folterzentren, wie sie die Militärdiktaturen in Griechenland (1967-1974) und Argentinien (1976-1983) errichteten. Keinen Zweifel lässt Nalbadidacis daran, dass Folter keine Verfehlung einzelner Akteure darstellte, sondern konstitutiv für die diktatorischen Regime war – ganz gleich, ob die Ausführung in den Händen der Sicherheitspolizei (wie in Griechenland) oder von Spezialeinheiten der Marine (wie in Argentinien) lag. Folter, physische Gewalt gegen Gefangene, hatte ihren festen Ort in den Zentren, deren räumliche Ordnung die Gewaltpraxis fundierte. Nalbadidacis entfaltet in dichter Beschreibung eine Szenerie, in der auch temporale Strukturierungen ein Machtgefälle zwischen den Folternden und ihren Opfern herstellten – ein Machtgefälle freilich, das die Gefolterten durch Selbsttötung durchbrechen konnten und das den Folternden selbst prekär erschien. Ihnen gaben der definierte institutionelle Rahmen und das hierarchische Gefüge ihre Handlungsmöglichkeiten bis zu einem gewissen Grad vor. Das ermöglichte es ihnen allerdings auch, sich nach Ende der Militärdiktatur ihrer eigenen Verantwortung zu entziehen und geltend zu machen, lediglich Befehle ausgeführt zu haben.
Nalbadidacis hat eine Studie vorgelegt, bei deren Lektüre dem Leser immer wieder der Atem stockt. Der Autor beobachtet genau, zwingt auch seine Leser genau hinzusehen, was sich in den „Verliesen der Diktatur“ abspielte; dabei wird die Darstellung in keinem Moment voyeuristisch (was längst nicht für alle Beiträge zur Gewaltforschung gilt), das Grauen wird nicht um eines oberflächlichen Effekts willen beschrieben. Nalbadidacis verbindet in eindrücklicher Weise den kühlen analytischen und distanzierten Blick des Historikers mit Empathie, und er lässt seine Leser an seinem Ringen um die angemessene Darstellung teilhaben, indem er eingehend die Probleme des Erzählens expliziert und reflektiert. Nicht minder beeindruckend ist sein souveräner Umgang mit der Fülle von Quellen und Forschungsliteratur, die er in fünf Sprachen rezipiert hat.
Diese Dissertation dürfte zu einem Standardwerk der historischen Gewaltforschung werden und weitere Forschungen nachhaltig anregen. Janis Nalbadidacis hat sich mit seiner Arbeit als ein hoch talentierter junger Historiker präsentiert, für dessen weitere Entwicklung wir ihm nur das Beste wünschen können.

Janis Nalbadidacis, Jg. 1984, ist zur Zeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Südosteuropäische Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin.